Désirée Scheidegger lässt eine Wolke über sich selbst erzählen, als sie noch ein Mensch war.
Mit «Eines Tages wachte ich auf und merkte, dass ich eine Wolke war» legt Désirée Scheidegger eine wunderbare poetische Erzählung vor. Die Berner Autorin erzählt die Geschichte von Claude, der zugleich Wolke und männliche und weibliche Hauptfigur ist. Gekonnt beschreibt die Autorin in lebendiger Sprache gegensätzliche, verbindende und unterschiedliche Lebenswelten skurril und gleichzeitig realistisch.
Mit ihrem Debüt «Aaregeflüster» (2017) überraschte Désirée Scheidegger in einer frischen, dahinfliessenden Sprache. In ihrem zweiten Buch, «Gelafer» (2019), verschrieb sich die Autorin dem Skurrilen und Träumerischen. In ihrem letzten Roman, «Die Fragmentsammlerin» (2021), vermischt sie Reales und Surreales. In ihrem neuen Roman vereint sie alle ihre Tugenden ihres bisherigen Schaffens, würzt diese mit einer Prise Humor und Absurdität. Das tut sie, indem eine Wolke die Geschichte von sich selbst erzählt, als sie noch ein Mensch war und Claude Bieri hiess. Die Erzählung beginnt sehr realistisch, wird immer verschwommener und das Menschsein verschwindet wie die Sonne an trüben Tagen. Bis die Wolke selbst nicht mehr weiss wer sie ist und wer sie einmal war.
Mit einem wunderbaren Kniff wechselt die Autorin inmitten der Geschichte vom männlichen Protagonisten zur weiblichen Protagonistin. Désirée Scheidegger schildert den Alltag von einem männlichen und einer weiblichen Claude. Die Unterschiede der beiden Figuren sind – abgesehen vom Namen – ziemlich gross. Der männliche Claude ist Bibliothekar an einer Uni-Bibliothek, nach aussen rau, durchstrukturiert, an Abläufe gebunden und unflexibel, dafür aber ziemlich stabil im Leben und kontaktfreudig. Die weibliche Claude ist zurzeit arbeitslos, sensibel und unsicher, spontan und chaotisch, lebt von Tag zu Tag, zeitweise eher zurückgezogen, psychisch labil. Beim Lesen taucht man in die Welten beider Claudes ein und lernt sie einerseits einzeln und unabhängig kennen, es entstehen jedoch auch Verbindungen zwischen den beiden Welten und Personen, und schliesslich begegnen sie sich. Sie warten beide im gleichen Wartezimmer einer Arztpraxis, und als der Name Claude Bieri aufgerufen wird, stehen beide auf und starren einander an.
Da die Wolke Claude die Geschichte der Menschen Claude (m) und Claude (w) erzählt, bleibt es offen, was Wirklichkeit ist, was Erinnerung und was Fantasie. Das bleibt den Lesenden überlassen. Vielleicht wachen auch wir eines Tages auf und merken, dass wir eine Wolke sind. In diesem Roman wird das Unvorstellbare zur Realität.
Désirée Scheidegger wurde 1989 in Bern geboren, wo sie heute noch lebt und als Primarlehrerin
arbeitet. Ihr Erstling «Aaregeflüster – fliessende Geschichten» wurde für den Kurt-Marti-Preis 2018 nominiert. «Eines Tages wachte ich auf und merkte, dass ich eine Wolke» war ist ihr viertes Buch im Knapp Verlag. Die Autorin beteiligt sich ausserdem gern an literarischen Gemeinschaftswerken, etwa mit ihrer Zwillingsschwester Annalisa Hartmann.
«Was Désirée Scheidegger aufs Papier zaubert, erinnert an Alice im (Schweizer) Wunderland.»
Rebekka Salm, Autorin